Bildungspflicht statt Schulpflicht

  • In Deutschland muss jedes Kind eine Schule besuchen. Es besteht eine Schulpflicht.

    In Österreich haben die Eltern die Pflicht, für die Bildung der Kinder zu sorgen. Es besteht Bildungspflicht.


    Auf den ersten Blick sagen die beiden Sätze das Gleiche aus, aber auch nur auf den ersten Blick.

    In Deutschland erfüllen Eltern ihren "Erziehungsauftrag", indem sie dafür Sorgen, dass ihre Kinder zur Schule gehen.

    In Österreich sind die Eltern selbst dafür verantwortlich, dass ihre Kinder alles lernen, was sie wissen müssen. Sie müssen sie also dazu nicht einmal auf eine Schule schicken, sondern können es ihnen sogar selbst beibringen. Die Kinder sind dann keine Schulkinder, sondern sogenannte "Freilerner".

    Am Ende eines Jahres wird dann überprüft, ob die Kinder die nötige Bildung erhalten haben. Diese offizielle Überprüfung ist teilweise nicht im Sinne der Freilerner.


    Stellt sich jetzt natürlich die Frage: Kann man einem Kind eigentlich alles Lebensnotwendige selbst beibringen ? 

    Antwort: Eindeutig ja. Man kann es ... aber ...


    Beispiel: Ich habe in meiner Jugend Musikunterricht gegeben. Die jüngste Schülerin war mit 4 Jahren noch nicht einmal in der Schule. Um Noten lernen zu können, muss man das Alphabet zum Teil kennen und Bruchrechnen können. Richtiges Musizieren ist pure Mathematik.

    Es erfordert nicht nur viel Fantasie, sondern auch viel Geduld und Eingehen auf das Kind, um ihm etwas beizubringen, ohne dass es entsprechende Grundlagen hat. Es gab schließlich nichts auf das ich hätte aufbauen können.

    Bruchrechnen ist eigentlich erst der nächste Schritt nach Addition und Multiplikation.

    Das Kind musste also etwas lernen, was sonst erst vielleicht im 4 Schuljahr vorkommt... und das nur um das Musizieren zu lernen.

    Als das Mädchen dann in die Schule kam, hätte es eigentlich die ersten Schuljahre überspringen können. Aber Schule ist ja nicht nur das Erwerben von Wissen, sondern auch das Erlernen von "Sozialkompetenz". Das Lernen, wie man sich in Gruppen verhält und mit anderen Menschen umgeht.


    Die Eltern von Freilernen müssen sehr viel Zeit und Mühe investieren, um ihren Bildungsauftrag zu erfüllen. Gleichzeitig brauchen sie selbst auch ein umfangreiches Wissen.


    Es heißt zwar allgemein "Freilerner lernen alles was sie für das Leben brauchen". Das stimmt jedoch nicht unbedingt.

    Freilerner sind sehr oft bei Selbstversorgern zu finden. Die Kinder lernen dort, also zuerst das, was sie für das Leben als Selbstversorger brauchen. Sie wissen und können also alles, um sich selbst zu versorgen.


    Freilerner bekommen am Ende der üblichen Schulzeit kein Abschlusszeugnis.

    Für ein Abitur müssen sie am Ende also doch wieder ein Schulsystem besuchen. Jetzt müssen sie sich also an eine neue Art des Lernens gewöhnen. Eine Art die völlig neu für sie ist. Sie werden jetzt gezwungen sein, sich an strukturiertes Lernen zu gewöhnen und auch daran, dass sie lernen müssen, auch wenn ihnen der Stoff nicht gefällt.


    Ohne Schulabschluss hat man heutzutage kaum eine Chance, einen Beruf zu ergreifen

    Sofern man trotzdem einen Ausbildungsplatz findet, gibt es auch in Österreich wieder eine Berufsschule, die das theoretische Wissen vermittelt oder der Ausbildungsbetrieb muss auch dieses Wissen vermitteln.

    Am Ende der Ausbildung steht dann die offizielle Prüfung, die Theorie- und Praxiswissen abfordert.


    Kann  das Freilernen überhaupt funktionieren ?

    Ja. Schulpflicht gibt es in Deutschland doch erst seit geschätzt 100 Jahren. Vorher haben die Menschen doch auch etwas gewusst und gelernt. Nur haben sie vorrangig das gelernt, was sie für ihren zukünftigen Beruf brauchen würden.

    Der Sohn eines Steinmetzes wurde auch wieder Steinmetz. Dafür hatte er alles Wissen von Kindheit an mitbekommen. Der Bauernsohn wurde auch wieder in der Landwirtschaft tätig. Man ergriff einfach den gleichen Beruf wie den des eigenen Vaters. So haben die Menschen seit Anbeginn gelernt und so lernen die Kinder in vielen Ländern auch heute noch.

    Eine qualifizierte Allgemeinbildung, wie man sie heute in der Schule erwirbt, gab es jedoch nicht.


    Der große Vorteil der österreichischen "Bildungspflicht" ist jedoch, dass die Eltern die alleinige Verantwortung für Erziehung und Bildung tragen.

    In Deutschland gibt es immer wieder Eltern, die denken, dass sie mit der Schulpflicht ihre eigene Aufgabe erfüllt haben.


    Auch wenn ich nicht in Österreich aufgewachsen bin, befürworte ich doch deren Verantwortungssystem.

    Erziehungsberechtigte haben die Aufgabe, ihre Kinder zu erziehen und so zu unterrichten, dass sie als Erwachsene eigenverantwortlich handeln können und sich ohne weitere Hilfe im Leben zurecht finden können.

    Wer als "Freilerner-Eltern" feststellt, dass das eigene Wissen nicht mehr ausreicht, kann seine Kinder ja ab diesem Punkt in eine normale Schule schicken in der sie dann das fehlende Wissen erwerben können.


    .....


    In einem Beitrag der Sendung "Galileo" (der der Anlass zu diesem Thema war) antwortet die Mutter, eine ehemalige Lehrerin, auf die Frage:

    - "Werden ihnen ihre Kinder später einmal Vorwürfe machen, weil sie keinen Wunschberuf ergreifen können?"

    - "Ja sicher. Aber für ihre Berufswünsche brauchen sie nicht mehr zu wissen, als ich ihnen beibringen kann. Es ist unsere Entscheidung, sie genau so zu erziehen und nicht anders. Sie können ja die nötigen Abschlüsse ja später noch selbst nachholen."


    Hier kann man gut die Nachteile des Freilernens erkennen:

    Die Kinder sind maximal 11 Jahre alt. In dem Alter weiß man noch nicht, welchen Beruf man später wirklich ergreifen wird. Natürlich werden die Kinder ihre Berufswünsche zunächst danach ausrichten, was sie bisher gelernt haben. Sie kennen ja nichts anderes. Deshalb machen sie sich auch keine Gedanken über andere Berufe.

    Die Selbstversorger instruieren und unterrichten sie also nur in ihrem eigenem Sinn. Sie bestimmen durch ihre Art der Bildung, welchen Beruf die Kinder später zu ergreifen haben. Sie sehen ihre Bildungspflicht als erfüllt, wenn dieses Wissen vermittelt wurde.

    Das ist natürlich einerseits nicht mehr zeitgemäß und andererseits schieben sie die Verantwortung auf die Kinder ab, die sich "wenn sie etwas anderes wollen, ja selbst um das nötige Wissen kümmern können"